Deutungshypothese
Die Deutungshypothese ist der erste Schritt, um einen literarischen Text richtig zu verstehen. In diesem Beitrag und im Video zeigen wir dir, was sie ist und wie du sie formulierst.
Inhaltsübersicht
Was ist eine Deutungshypothese?
Eine Deutungshypothese ist deine erste Vermutung darüber, was ein literarischer Text ausdrücken will. Du fasst dabei in ein bis drei Sätzen zusammen, worum es im Kern geht und welche Absicht der Autor mit dem Text verfolgt. Diese Hypothese bildet die Grundlage für deine spätere Analyse.
➡️Beispiel: „Das Gedicht zeigt die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben und nutzt die Natur als Symbol für Freiheit und Veränderung.“ |
Übrigens: Du schreibst deine Deutungshypothese am Ende der Einleitung deiner Analyse — ganz egal, ob du ein Gedicht, eine Kurzgeschichte oder einen anderen literarischen Text untersuchst. Deine Hypothese hilft dir, den roten Faden in deiner Analyse zu finden.
Deutungshypothese formulieren — Schritt für Schritt am Beispiel erklärt
Damit du eine treffende Deutungshypothese schreiben kannst, brauchst du vor allem eins: eine klare Struktur. Mit nur drei Schritten gelingt dir das ganz leicht. Zur Veranschaulichung zeigen wir dir das Ganze an zwei Beispielen.
Beispiel: Gedicht „Es ist alles eitel“
Im folgenden Gedicht von Andreas Gryphius geht es um die Vergänglichkeit des Lebens. Lies dir das Gedicht einmal komplett durch:
Es ist alles eitel
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein,
auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.
Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein.
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.
Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten,
als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind,
als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t!
Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten.
Um daraus eine Deutungshypothese zu entwickeln, gehst du so vor:
1. Text genau lesen und zentrale Themen erkennen
Beim genauen Lesen fallen dir vielleicht direkt die vielen Begriffe auf, die mit Vergänglichkeit zu tun haben: „Eitelkeit“, „Asch’ und Bein“, „Nichts ist, das ewig sei“, „Staub und Wind“, Traum vergehn“ oder „nicht wieder find’t“. Gryphius zeigt, dass alles Irdische — also Städte, Ruhm, Reichtum — früher oder später verschwindet. Die Stimmung ist düster und ernüchternd.
➡️ Zentrales Thema: Der Text vermittelt, dass nichts auf der Welt Bestand hat.
2. Hintergrundinformationen einbeziehen
Das Gedicht entstand während des Dreißigjährigen Krieges, einer Zeit voller Gewalt, Hunger und Leid. Gryphius erlebte diese Umstände selbst. In seinem Gedicht findest du diese Motive auch. Die wiederkehrenden Bilder von Verfall und Zerstörung passen also zur historischen Situation.
➡️ Zusätzliche Deutung: Gryphius ruft dazu auf, sich nicht von äußeren Dingen blenden zu lassen. Stattdessen sollten Menschen sich auf das konzentrieren, was ewig ist — zum Beispiel Glaube, Bescheidenheit oder innere Werte.
3. Deutungshypothese schreiben
Daraus kannst du nun eine mögliche Deutungshypothese formulieren:
„Das Gedicht ’Es ist alles eitel‘ zeigt die Vergänglichkeit aller weltlichen Dinge. Gryphius macht deutlich, dass Ruhm, Besitz und Schönheit keinen Bestand haben und fordert dazu auf, sich auf das Ewige zu besinnen.“ |
Tipp: Im Hauptteil deiner Analyse kannst du prüfen, ob der Text diese Aussage wirklich stützt — oder ob du deine Hypothese nochmal anpassen musst.
- Das Gedicht / die Geschichte [Titel] behandelt das Thema …
- Der Text zeigt, wie …
- Die zentrale Aussage ist, dass …
- Der Autor will verdeutlichen, dass …
- Die Hauptfigur steht vor dem Konflikt zwischen … und …
Beispiel: Kurzgeschichte „Spaghetti für zwei“
In „Spaghetti für zwei“ von Federica de Cesco geht es um den Schüler Heinz, der in einem Selbstbedienungsrestaurant auf einen fremden Jungen trifft. Anfangs denkt er, der Junge habe sein Tablett gestohlen. Doch am Ende stellt sich heraus: Der Junge wollte ihm helfen. Durch diese Begegnung beginnt Heinz, seine Vorurteile zu hinterfragen.
1. Text genau lesen und zentrale Themen erkennen
Beim genauen Lesen fällt dir auf, dass Heinz den fremden Jungen zunächst nach seinem Aussehen beurteilt. Er denkt in Stereotypen, ist unsicher und misstrauisch. Im Verlauf der Geschichte erlebt er jedoch eine überraschende Wendung: Der Junge hilft ihm wortlos und respektvoll.
➡️ Zentrale Themen: Vorurteile, Missverständnisse und der Weg zu mehr Offenheit. Die Geschichte zeigt, wie leicht man sich täuschen kann — und wie wichtig es ist, andere Menschen unvoreingenommen zu sehen.
2. Hintergrundinformationen einbeziehen
Die Handlung spielt im Alltag — keine besondere Zeit, kein besonderer Ort. Genau das macht sie so realistisch. Federica de Cesco nutzt eine einfache Szene, um zu zeigen, wie stark wir durch Vorurteile geprägt sind, oft ohne es zu merken. Dass Heinz sich am Ende Gedanken macht, zeigt dir: Lernen passiert nicht durch Belehrung, sondern durch echte Begegnung.
➡️ Zusätzliche Deutung: Die Geschichte macht deutlich, dass kleine Momente im Alltag große Wirkung haben können und dass Verständnis der erste Schritt gegen Ausgrenzung ist.
3. Deutungshypothese schreiben
Aus diesen Beobachtungen kannst du z. B. folgende Deutungshypothese formulieren:
„Die Kurzgeschichte ’Spaghetti für zwei‘ zeigt, wie leicht wir Menschen nach äußeren Merkmalen beurteilen und welche Bedeutung es hat, eigene Vorurteile zu erkennen. Sie vermittelt, dass Offenheit und Respekt dazu führen können, echte Menschlichkeit zu erfahren.“ |
Mit dieser Hypothese hast du eine klare Grundlage für deine Analyse!
Nein — sie ist deine begründete Vermutung. Wichtig ist nur, dass du sie im Hauptteil deiner Analyse mit passenden Textstellen belegst. Falls du beim Schreiben merkst, dass deine Hypothese nicht ganz passt, darfst du sie anpassen. Genau das gehört zu einer guten Interpretation dazu.
Verbindung zur Gedichtanalyse
Die Deutungshypothese ist immer Teil deiner Gedichtanalyse bzw. Gedichtinterpretation. Damit du die drei Begriffe voneinander abgrenzen kannst, haben wir dir hier die wichtigsten Informationen zusammengestellt:
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Deutungshypothese:
Am Anfang überlegst du dir darin, was das Gedicht aussagen könnte. Du formulierst eine begründete Vermutung — z. B. zur zentralen Botschaft oder zur Absicht des Autors. Diese Hypothese gibt deiner Analyse eine klare Richtung. Sie steht immer am Ende der Einleitung nach den Fakten zum Gedicht (Titel, Erscheinungsjahr etc.) und leitet in die Gedichtanalyse, also den Hauptteil über.
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Gedichtanalyse:
In diesem Hauptteil überprüfst du nun deine Vermutung, indem du das Gedicht systematisch untersuchst: Inhalt, Aufbau, Sprache, Metrum, Reimschema, Stimmung, Motive — alles wird hier genau betrachtet. Dabei fragst du dich immer: Passt das zur Hypothese? Unterstützt der Text meine Annahme oder muss ich sie vielleicht ändern?
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Interpretation:
Zum Schluss setzt du alles zu deiner Gedichtinterpretation zusammen. Du deutest, was die einzelnen Analyseergebnisse bedeuten, und ordnest sie in einen größeren Zusammenhang ein. Hier entwickelst du deine eigene Sicht auf das Gedicht — mit der Deutungshypothese als roten Faden.
Wichtig: Alle drei Schritte hängen zusammen: Die Deutungshypothese gibt die Richtung vor, die Analyse liefert die Details und die Interpretation bringt alles auf den Punkt.
Deutungshypothese — häufigste Fragen
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Was ist die Deutungshypothese in der Analyse? Die Deutungshypothese ist deine Vermutung über die Kernbotschaft eines literarischen Textes. Sie wird in der Einleitung einer Analyse formuliert und im Hauptteil genauer erläutert und überprüft. Im Schlussteil gibst du dann an, ob sich deine Deutungshypothese bestätigt hat oder ob sie widerlegt wurde. -
Ist die Deutungshypothese eine Frage? Eine Deutungshypothese ist die Vermutung darüber, welche Intention, also Absicht, der Autor mit seinem Text verfolgt. Sie kann sich entweder bestätigen oder als falsch herausstellen. Diese Frage beantwortest du im Schluss deiner Analyse bzw. Interpretation. -
Wie fängt man am besten eine Deutungshypothese an? Am besten beginnst du eine Deutungshypothese mit einer Formulierung wie: „Der Text thematisiert…“ oder „Es lässt sich vermuten, dass der Autor/die Autorin mit dem Text zeigen möchte, dass…“ oder auch „Das Gedicht / die Geschichte [Titel] behandelt das Thema …“.
Gedichtanalyse
Super, jetzt weißt du, was eine Deutungshypothese ist! Die Deutungshypothese ist ein Teil der Interpretation — doch wie sieht der gesamte Aufbau einer Gedichtanalyse aus? Das zeigen wir dir hier!